Bach aus dem Bauch

von Stephan Thomas - Musik und Theater, Oktober 2001

Noten auf dem Pult sind am Lausanner "Festival de Musique improvisée" tabu. Die ganze Musik aus den verschiedensten Stilbereichen entsteht aus dem Moment heraus. Dieses innovative Event fand dieses Jahr zu fünften mal statt.

Wohl keines der unzählbar gewordenen klassischen Sommerfestivals ist in seiner Thematik so speziell wie dieses. Und wohl keines ist wie es bisher vom breiten Publikum mit Nichtbeachtung gestraft worden. Die Bedeutung des weltweit ersten Festivals der improvisierten klassischen Musik zu verkennen, könnte sich aber dereinst als historischer Irrtum erweisen. Denn vielleicht liegt gerade in der Improvisation der Ausweg aus dem Dilemma, dass in der Klassik tendenziell ein beschränktes Repertoire bis an die Grenze zum Überdruss - und oft genug darüber hinaus - reproduziert wird. Das Improvisieren könnte einen Weg aus der Sackgasse bedeuten und mehr Spannung, Unvorhergesehenes und Überraschungen in die Konzertsäle zurückbringen, etwas von der knisternden Ungewissheit, das den Reiz einer Sportveranstaltung ausmacht.

Was im Jazz gang und gäbe ist, fristet im Bereich der Klassik (noch) ein Nischendasein. Kann man überhaupt klassisch improvisieren? Zweifellos, denn zwischen Komponieren und Improvisieren besteht kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller Unterschied. Anders gesagt: alles, was das Hirn eines Komponisten ersinnen kann, steht zumindest theoretisch auch dem Improvisator zu Gebote, ausreichende Befähigung natürlich vorausgesetzt. In diesem Punkt gibt es zwischen Jazz und Klassik keinen Unterschied. Komponisten wie Mozart haben ihre Musik erklärtermassen oft vollständig im Kopf konzipiert, die Niederschrift war dabei kaum mehr als ein notwendiges Übel. Ein wesentlicher Vorbehalt bleibt allerdings bestehen: was ein Einzelner im Moment ersinnt, kann auch nur er allein zur Ausführung bringen, denn es gibt ja keinen praktikablen Weg, seine Konzepte den Mitspielenden kürzestfristig zu kommunizieren. Ohne Einschränkung kann also Improvisation nur solistisch stattfinden, und wenn die Musik mehrstimmig sein soll, kommen dafür nur Instrumente in Frage, die chorisch gespielt werden können. Das sind im wesentlichen Tasteninstrumente wie Klavier, Orgel und Cembalo, ferner Zupfinstrumente wie Gitarre, Laute und Harfe. Gruppenimprovisationen sind aber dennoch möglich, sofern zuvor gewisse Absprachen getroffen werden. In der Spätrenaissance war es beliebt, über ein feststehendes Harmoniemuster zu improvisieren, das dann einen charakteristischen Namen erhielt: Passamezzo, Ruggiero oder, heute noch am ehesten ein Begriff, Follia. Dieses Vorgehen ist, über 500 Jahre hinweg, eng mit der Praxis des Jazz verwandt.

Ganz abgestorben ist in Europa die Improvisation seit der Zeit der Renaissance dennoch nicht. Die Organisten haben die Kunst des Extemporierens - des aus dem Moment heraus Erfindens - immer mehr oder weniger in Ehren gehalten. Verständlicherweise spielen Tasteninstrumente, besonders die Orgel, auch beim Lausanner Festival eine prominente Rolle. Aber auch Ensembles treten am Festival auf, mehrheitlich solche aus dem Gebiet der Alten Musik. So war das Konzert des Bläserensembles "The Night Watch" einer der Höhepunkt des letzten Festivals; stupend war dabei vor allem die virtuose Verzierungskunst des Zinkenisten William Dongois, der das Auditorium mit seinen Diminutionen schwindlig spielte. Ähnlich gelagert ist das Ensemble "Les Witches" unter dem originellen und quirligen, aber nötigenfalls auch strengen und absolut stilsicheren Tasteninstrumentalisten Freddy Eichelberger; vor zwei Jahren waren sie in Lausanne im Rahmen des Festivals in einem Literatencafé zu hören, wo sie nicht nur für das Konzertpublikum, sondern ebenso für zufällig anwesende Cafégäste spielten. Womit gesagt ist, dass man am Genfersee keine Berührungsängste kennt und sich auch nicht in die esoterische Schublade realitätsentrückter Alte-Musik-Fetischisten stecken lässt, für die nur ein mittelalterliches Kloster weitab der Zivilisation als Aufführungsort in Frage kommt.

Das betrifft auch das Stilistische: die Renaissance ist nur einer der Schwerpunkte, im übrigen kommen alle Epochen zu Wort. Michel Bignens, ein begnadeter Improvisator und beharrlicher Werber für die Schönheiten des Klavichordspiels, ist in allen Epochen zuhause und improvisiert ohne mit der Wimper zu zucken ganze Konzertabende französisch-barocke Messen im Wechsel mit einer Choralschola oder ein ganzes Rezital im Stil der Wiener Klassik. Bei der letzten Austragung des Festivals war es der Organist Jörg Abbing, der die Welt der spätromantischen Franzosen Guilmant, Widor und Vierne in die Kirche St.François zauberte, allerdings alles aus dem Moment erfunden. Dafür, dass die Musik wirklich improvisiert und nicht von langer Hand vorbereitet wurde, bürgte in diesem Fall das Prozedere, dem Interpreten kurz vor dem Konzert Themenvorgaben in einem Umschlag zu überreichen; dieser Brauch hat besonders in Frankreich Tradition.

Scheuklappen trägt am Lausanner Festival niemand, und Berührungsängste hat auch keiner. So kann man hier einen Avantgardisten und Jazzer wie Peter Waters treffen, und selbst ein Konzert mit Hammond-Orgel und Perkussion fügt sich bruchlos ins Konzept. Für die grundsätzliche Aufgeschlossenheit spricht auch die Zusammenarbeit mit der EJMA, der Ecole de Jazz et de Musique actuelle Lausanne, in deren Lokalitäten mehrere Konzerte des Festivals stattfinden. Ein weiterer Gedanke und eine Option für spätere Jahre wäre die Kinoorgel, auf der seinerzeit fast ausschliesslich improvisiert wurde; eine Exkursion nach Genf, wo ein solches Instrument erhalten geblieben ist, wäre bestimmt die Mühe wert.

Dass in alten Zeiten die Musik selten isoliert dargeboten wurde, sondern meist verbunden mit Tanz, Schauspiel und gesprochenem Wort, ist den Machern des Lausanner Festivals bewusst. Pierre-Alain Clerc, als Musiker Dozent am Genfer Centre de Musique Ancienne, daneben aber auch als Schauspieler ausgebildet, ist der Initiant mehrerer spartenübergreifender Veranstaltungen. So las er beispielsweise mit viel darstellerischer Delikatesse Stellen aus Antoine de Saint-Exupérys Petit Prince, was Rudolf Lutz am Klavier zu köstlichen Improvisationen inspirierte. Unvergessen ist auch, was die beiden zwei Jahre zuvor präsentierten: der Rhetorikspezialist Clerc gab als fiktiver Pfarrer von der Kanzel ein Musterbeispiel barocker Redekunst, und Lutz tat ein gleiches auf der Orgel mit musikalischen Mitteln.

Noch andere Vertreter der Improvisationsszene der Westschweiz gehören zum festen Bestand des Festivals; neben Lutz, Bignens, Eichelberger und Clerc müsste man noch Emmanuel Le Divellec, Philippe Despont und Jean-Yves Haymoz nennen, den Experten für improvisierte Polyphonie; ein weiterer regelmässiger Gast ist der Holländer Erik-Jan van der Hel. In Erinnerung bleiben auch die Auftritte von Jean-Pierre Leguay und William Portner; Leguay, der blinde Titularorganist von Notre-Dame in Paris, zelebrierte vor zwei Jahren an Klavier und Orgel eine kompromisslos avantgardistische Musik; dieses Konzert wird den Hörern noch lange in Erinnerung bleiben.

Neben den abendlichen Konzertveranstaltungen finden tagsüber Kurse statt. Zwar ist es nicht einfach, allen Teilnehmenden etwas Bleibendes für die eigene Praxis mitzugeben, denn die Voraussetzungen sind oft sehr unterschiedlich. Mehrheitlich sind es interessierte Laien, die sich hier inspirieren lassen. Zum Glück sind viele der Improvisationsmeister vorzügliche Pädagogen und verstehen es, auf die verschiedenen Begabungen einzugehen. Nicht jeder wird danach gleich eine druckreife Sinfonie aus dem Nichts zaubern können, doch ist es wohl wichtiger, aktives Verständnis für die Improvisation zu schaffen und ein zukünftiges Publikum für Improvisationskonzerte heranzuziehen.

Initiant dieses mutigen Unternehmens ist Gaël Liardon; der junge Lausanner betreibt das Festival nun schon seit fünf Jahren mit bescheidensten Mitteln, ehrenamtlich und fast im Alleingang, unterstützt lediglich von einer kleinen Gruppe von Helfern, die sein feu sacré für die improvisierte Musik teilen. Es wäre zu wünschen, dass dieses Festival vermehrt Beachtung findet und auch über die notwendigen Mittel verfügt, sich gebührend bekannt zu machen.

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